Stadt Memmingen:Gründerzeit-Architektur

Aufbruch in Memmingen. Neu- und Umbauten der Gründerzeit (Ausstellung 2011)

Sechs Jahrzehnte nach der Mediatisierung der Reichsstadt Memmingen durch das Kurfürstentum Bayern 1802/03 erlebte die Stadt eine ihrer größten Wachstumsperioden. Zwei Persönlichkeiten aus Stadtpolitik und Stadtverwaltung verdienen es, aus der Vielzahl der engagierten Memminger herausgehoben zu werden. Ihre Namen sind auf allen Beschlüssen bzw. Plänen zur Modernisierung fast aller Gemeinschaftseinrichtungen vermerkt: Bürgermeister Julius von Roeck (1818-1884) und Stadtbaumeister Karl Bandel (1828-1896)

Julius von Roeck (1818-1884)

Julius Roeck erwarb 1841 zusammen mit seinem Schwager Philipp Huetlin eine aufgelassene Tuchmanufaktur an der Äußeren Ulmer Straße (Donaustraße), um dort eine Woll-spinnerei und Kunstmühle zu errichten. In der Stadt- und Landespolitik war Roeck an verschiedenen Stellen aktiv:

  • Abgeordneter des Bayerischen Landtages (1848/49)
  • Vorstandsmitglied im Verein zur Förderung des privaten Baues einer Eisenbahn zwischen Kempten, Memmingen und Ulm (1856-1860)
  • Vorsitzender des Memminger Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten (1854-1865)
  • Bürgermeister und Vorstand des Stadtmagistrats (1865-1884)
  • Mitglied, später auch Präsident des Landrates im Kreis (heute Regierungsbezirk) Schwaben (1865-1884).

1871 wurde Julius Roeck von König Ludwig II. in den persönlichen Adelsstand erhoben. Zu seinem 25jährigen Dienstjubiläum 1879 überreichten ihm die städtischen Gremien eine geschmackvolle Fotosammlung, die die wichtigsten Bauprojekte seiner Amtszeit dokumentiert.

Karl Bandel (1828-1896)

Karl Bandel wurde im Jahr 1853 zum hauptamtlichen Stadtbaumeister Memmingens berufen. In seiner jahrzehntelangen Amtszeit (bis 1889) war er neben der Beaufsichtigung des privaten und gewerblichen Bauwesens auch für alle städtische Hoch- und Tiefbauten zuständig: 

  • Feuerlöschrequisitenhaus (Neubau 1864 mit Wohnung im 1. OG)
  • Turnhalle (Neubau 1865)
  • Schlachthaus (Neubau 1867)
  • Elsbethenschule (Umbau 1867/68)
  • Krankenhaus an der Steinbogenstraße (Umbau 1868/69)
  • Kinderlehrkirche (Renovierung 1870)
  • Eichhaus (Umbau 1870)
  • Krugsche Häuser (Neubauten 1870, 1872 und 1877)
  • Schrannenhäuser (Neubauten 1871 und 1872)
  • Brunnenhaus (Umbau 1875)
  • Leichenhaus (Neubau 1875)
  • Theater (Umbau 1877)
  • Rathaus, Steuerhaus und Großzunft (Umbauten 1879)

Viele Jahre war Karl Bandel auch Vorstand der 1860 gegründeten Freiwilligen Feuerwehr und des ersten Memminger Verschönerungsvereines (1865ff.).

Im Sommer 2011 schenkte Herr Wilhelm Mändle, Essen, seiner Geburtsstadt die Fotografien zusammen mit einer lederbezogenen, mit dem Stadtwappen verzierten Holzschatulle.

Schlachthaus (Neubau 1867)

Schon länger bestehende hygienische Probleme bildeten das entscheidende Motiv für Stadtmagistrat und Kollegium der Gemeindebevollmächtigten zum Neubau eines Schlachthauses am Standort der bisherigen, in reichs-städtische Zeiten zurückreichenden "Metzg". Das dahinterliegende ehemalige Seelhaus wurde zum Untersuchungsbereich des "Polizei-Tierarztes" und für Stallungen zum Zwecke der Fleischbeschau und für den Fall von Viehkrankheiten umgebaut. Bereits wenige Jahrzehnte später konnte der Standort die gewachsenen Anforderungen nicht mehr erfüllen. 1914 wurde an der Riedbachstraße ein Schlachtviehmarkt eröffnet; der Bau eines neuen Schlacht- und Viehhofes sollte sich jedoch noch bis 1929/30 verzögern. Das Schlachthaus an der Maximilianstraße wurde 1929 abgebrochen; an seiner Stelle erstand das Lichtspieltheater "Schauburg", später für Zwecke des Einzelhandels mehrfach umgebaut.

Protestantische Volksschule (Umbau 1867/68)

1805 wurden Memmingens (protestantische) Volksschulen im Gebäude der ehemaligen Lateinschule zusammen-gefasst und 1814/15 neueingerichtet. Das Haus wurde 1867/68 umfassend saniert. Die katholische Schulklassen wurden erst 1886 hierher verlegt, wozu das Gebäude ein zweites Stockwerk erhielt. Mit der Verlegung der Elsbethenschule 1995 zur Bismarckschule endete das Kapitel Schulgeschichte auf dem Areal des mittelalterlichen Augustinerinnenklosters. Seit 2010 prägen Werkstätten, Proberäume und Studioräume des Landestheaters Schwaben sowie Geschäfts- und Praxisräume das moderne Erscheinungsbild des Stadtquartiers zwischen Schrannenplatz und Theaterplatz.

Krankenspital (Umbau 1868/69)

Die 1814 anstelle verschiedener reichsstädtischer Spitäler errichtete Pfründe unweit der Frauenkirche kümmerte sich um Alte und Kranke. 1869 wurden die Kranken zusammen mit der Kinderbewahranstalt in den umgebauten ehemaligen Salzstadel an der Stadtmauer östlich des Kempter Tores umgesiedelt. 1870 übernahmen Neuendettelsauer Diakonissen die Pflege; Träger dieser wie der anderen Sozialeinrichtungen dieser Zeit waren die Vereinigten Wohltätigkeitsstiftungen (Unterhospitalstiftung). Bereits vor dem 1. Weltkrieg wurden Neubaupläne für das Krankenhaus diskutiert, jedoch aus finanziellen Erwägungen mehrfach verschoben. 1934/35 wurde ein Anbau für Operationen errichtet; 1937 der Kindergarten an die Stadtweiherstraße verlegt. Nach der Verlegung des Krankenhauses 1955/56 in einen Neubau an der Bismarckstraße wurde das Gebäude zum Schulhaus, zunächst für das spätere Vöhlin-Gymnasium, dann für die Reichshainschule (Sonderpädagogisches Förderzentrum).

Kinderlehrkirche (Renovierung 1870)

Einem Bericht von Stadtbaumeister Karl Bandel zufolge befand sich die Kinderlehrkirche im Februar 1870 zwar in einem baulich guten Zustand, renovierungsbedürftig waren allerdings Fenster, Türen und Bodenbeläge. Zudem musste eine neue Orgel beschafft werden, da die alte nach der zeitweiligen Benützung durch die katholische Gemeinde (während des Umbaues von St. Johann) baufällig geworden war. 1872 waren die Renovierungsarbeiten abgeschlossen; bis 1875 waren Altar, Kanzel und Orgel geliefert. Die Kosten übernahm die damals vom Memminger Stadtmagistrat verwaltete Pfarrhofpflege.

Stadtbachufer und Eichhaus (Umbau 1870)

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts ließ der Stadtmagistrat das Ufer des Stadtbaches, der gleichzeitig seine Funktion als Abwasserkanal verlor, neu befestigen. Viele bislang hölzerne Brücken und Geländer wurden durch Konstruktionen aus Eisen ersetzt. Seit 1869 fand das metrische System auch im Königreich Bayern Anwendung; 1870 wurden bei den unteren Verwaltungsbehörden (also auch beim Stadtmagistrat Memmingen) Verifikatorenbezirke eingerichtet, die alle dem öffentlichen Handel dienenden, eichpflichtigen Maße und Gewichte untersuchten. Die Memminger Dienststelle hatte im (reichsstädtischen) Eichhaus ihren Sitz.

Armenhäuser Krugscher Stock (Neubauten 1870/72/77)

Mit dem Neubau der "Krugschen Stöcke", die der 1553 errichteten Lorenz Steffelsche Stiftung gehörten, beschritt der Stadtmagistrat ab 1870 neue Wege im sozialen Wohnungsbau. Nach der schrittweisen Fertigstellung fanden in jedem der drei Häuser (an der Rabengasse) arme Memminger Familien Platz zum Leben und Wohnen. An Stelle dieser Häuser steht seit 1978 der Neubau des Memminger Bürgerstifts, dessen Ausmaße weit über die bisherige Pfründe (an der Spitalgasse) hinausreichen.

Schrannengebäude I (Neubau 1871)

Mitte des 19. Jahrhundert drohte dem Memminger Getreidehandel ein sicheres Ende. Die Stadt begegnete dem anhaltendem Niedergang der Getreidedurchfuhr mit einem engagierten Investitionsprogramm. Im Jahr 1871 beschlossen Stadtmagistrat und Kollegium der Gemeinde-bevollmächtigten in einer gemeinsamen Sitzung, an der Stelle des alten Gerstenstadels und des benachbarten Gerberhauses am Schrannenplatz ein neues Kornhaus (für Sommerfrüchte) zu errichten; noch im selben Jahr war das Gebäude fertiggestellt. Die Bemühungen um den Erhalt des Memminger Getreidehandels blieben allerdings erfolglos. 1934 wurde die Sommerschranne zum Haus des nationalsozialistischen "Allgäuer Beobachters", 1948 zum Verlagshaus der Memminger Zeitung (1962/63 um- bzw. neu gebaut, 2008 abgebrochen).

Schrannengebäude II (Neubau 1872)

Bereits im November 1871 wies Bandel auf die Baufälligkeit des alten reichsstädtischen Kornhauses hin, das ebenso wie das benachbarte kleine, ebenfalls baufällige Haberhaus abgebrochen werden sollte. Die städtischen Gremien folgten seinem Vorschlag und beauftragten ihn auch mit der Planung für ein zweites Schrannengebäude (für Winter-getreide) am alten Standort über dem Stadtbach (fertiggestellt im Oktober 1872). In der Schrannenhalle hielt 1918 der erste Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Kurt Eisner, seine erste Werberede außerhalb Münchens. Aus baulichen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Gründen erfolgte 1950 der Abbruch des Gebäudes, dessen Umrisse im Pflaster des neugestalteten Schrannenplatzes nachgezeichnet sind. 

Brunnenhaus (Umbau 1875)

Zur Anlage eines Wasserwerkes erwarb die Stadt 1872 die ehemalige Frommelsche Stärkefabrik im Norden des Benninger Riedes. Im Gebäude stellte ab 1874/75 ein Pumpwerk die Wasserversorgung für einen Großteil der damaligen Stadt sicher. Die vielleicht größte Infrastruktur-maßnahme dieser Zeit wurde begleitet vom Neubau eines Leitungssystems im Stadtgebiet, der anschließenden Pflasterung der Straßen und 1897 ergänzt durch einen Wasserhochbehälter in Memmingerberg.

Leichenhaus (Neubau 1875)

Memmingens (Alter) Friedhof an der Augsburger Straße erwies sich Mitte des 19. Jahrhunderts als sehr beengt. 1846 und 1873 konnte sein Areal schrittweise erweitert werden; 1872 legte Stadtbaumeister Bandel erstmals Pläne für ein Leichenhaus am Friedhof vor, in dem die Toten in den Stunden vor der Beisetzung aufgebahrt werden sollten. In den Seitenflügeln des 1875 eingeweihten Baues befanden sich Leichenzellen und Räume für Ärzte und Gerichtspersonen sowie eine Wohnung für den Friedhofswärter. Noch viele Jahre nach der Eröffnung des neuen Waldfriedhofes 1920 diente die Halle ihrem ursprünglichen Zweck, ehe sie 1959 durch eine Aussegnungshalle am neuen Friedhof ersetzt wurde. Seit Mitte der 70er Jahre ist sie Übungsraum der Memminger Stadtkapelle.

Theater (Umbau 1877)

Ein Theaterbauverein sorgte 1877 für die Renovierung des Memminger Theaters, das seit 1802 im ehemals reichsstädtischen Zeughaus untergebracht war. Erneuert wurde damals auch das beeindruckende Schieferdach, worunter eine für die damalige Zeit moderne Eisenkonstruktion eingezogen wurde, die die Decke des Theatersaales trägt. Die heutige neubarocke Fassade geht auf die spätere Umgestaltung 1904/05 zurück.

Rathaus (Umbau 1879)

Nach der Mediatisierung der Reichsstadt Memmingen diente das 1589 errichtete, ab 1764/65 mit einer Rokoko-Fassade geschmückte Rathaus kurzzeitig als Sitz bayerischer Behörden (u.a. Appellationsgericht 1803-1817). 1818 zogen wieder Verwaltung und Rat (Stadtmagistrat und Kollegium der Gemeindebevollmächtigten) ins Gebäude ein. 1878 erfolgte eine Erneuerung der Fassade einschließlich Anbringung einer Uhr; eine umfassende Innensanierung datiert in die Jahre 1906 bis 1908.

Amtsgericht (Umbau 1879)

1833 verkauften die letzten in Memmingen verbliebenen Patrizier ihr Zunfthaus am Marktplatz, die sog. Großzunft, an die Stadt. Die Lesegesellschaft verblieb noch bis 1848 im Gebäude, das im Zuge der Justizreform im Deutschen Reich 1879 für das neu geschaffene königliche Amtsgericht umgebaut wurde. Nach dem Wegzug des Gerichts 1906 in einen Neubau an der Buxacher Straße erhielt das Haus verschiedene Nutzungen (u.a. Stadtbauamt, ab 1920 Stadtsparkasse und im oberen Stock von 1908 bis 1935 Altertums-Sammlung / Städtisches Museum).

Steuerhaus (Umbau 1879)

Ab 1879 hatte die Memminger (Lese-)Gesellschaft "Harmonie" im Gebäude der reichsstädtischen Finanzverwaltung ihr Domizil - zusammen mit dem historischen Bücherbestand der Reichsstadt Memmingen, der bereits 1817 hierher verlegt worden war und unmittelbar nach1945 ins Rathaus, schließlich 1977 ins Grimmelhaus verlegt worden ist (Wiss. Stadtbibliothek). Sein neubarockes Gewand erhielt das Steuerhaus erst 1908 - durch Stiftung der Fassadenmalerei durch Rosa von Zoller, der Witwe des letzten patrizischen Bürgermeisters der Stadt Memmingen.